Unbenannte Seite

Moritz Wullen

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»Kunst« ist ein griffiges Wort mit fünf Buchstaben, von harten Konsonanten eingeschachtelt und in seinem Klang ausgesprochen schnittig. »Kunst« ist wie »Zack«, ein Wort, das dasteht wie die sprichwörtliche Eins und an sich gar nicht rütteln lassen will. Entsprechend dinghaft wird es auch landläufig gebraucht: Kunst wird gemacht, Kunst wird gefördert, Kunst wird ausgestellt, Kunst wird verkauft. Ließe sich die Summe all dessen, was über »Kunst« landläufig geredet, gestritten oder geschrieben wird, bildhaft verdichten, so ergäbe sich die Ansicht eines wahrhaft monströsen Etwas: einer Knetkugel im Kathedralenformat, so alt wie die Menschheit und bis in den letzten Quadratzentimeter hinein zerfurcht von kreativen Fingerspuren.

Soweit also die konventionelle Denkfigur. Die moderne Theorie ist etwas weiter: Sie spricht von der Kunst als Kommunikationssystem. Demnach ist die Kunst kein festes Medium, aus dem Nichts ins Sein gestellt, auf dass der Mensch es formend knete, sondern ein Gravitationsfeld für unterschiedlichste Prozesse des Kommunizierens mit und über Kunst, dessen Mitte geheimnisvoll im Dunkeln liegt. Irgendwie, so ahnt man, dreht sich alles nur um Eines, aber es ist gerade dieses Eine, was im blinden Fleck verbleibt. Man macht Kunst, man redet über Kunst, und das geht erstaunlich locker von der Hand. Die auf das Eigentliche abgezielte Frage »Was ist Kunst?« bringt jedoch selbst den größten Kunstgelehrten in Verlegenheit. Und das ist die Schwierigkeit mit jeder Theorie, die die Wirklichkeit prozesshaft sehen will: Was im Fluss ist, ist per se nicht auf den Punkt zu bringen.

Und auch eine solche Theorie ist noch zu überbieten. Denn der Wahrheit zuliebe muss man eingestehen: Ein System oder ein Gravitationsfeld namens »Kunst« ist nicht nachweisbar. Nirgendwo stößt der Forscher auf ein Areal, in dem sich die Kommunikation über Kunst kernhaft verdichtet. Von keinem Zentrum aus wird geregelt, was Kunst ist und was nicht. Selbst an den heiligsten Orte profunden Wissens über die Geschichte und das Wesen der Kunst – etwa an kunstgeschichtlichen Instituten oder großen Museen – weiß niemand zu sagen, warum Kunst ist, was als Kunst bezeichnet wird. Und es ist ja nicht nur so, dass ein zentraler Fixpunkt fehlt. Schon mit dem bloßen Zusammenhang dieser Prozesse liegt es im Argen. Ein Proseminar über Kunsttheorie an der Humboldt-Universität Berlin, eine Ausstellungseröffnung des Heilbronner Kunstvereins, ein Symposion im Warburg-Haus in Hamburg, der Streit über die Frage »Ist Beuys Kunst?« beim Kaffeekranz in Berlin-Wilmersdorf – all dies findet in Schwindel erregender Vervielfachung an einem Tage, in einer Stunde, vielleicht sogar in einer Minute statt, ohne dass nur im geringsten ein Ereignis vom anderen weiß.

Dann ist es vielleicht das: Kunst nicht als ein auf Prozessen basiertes System, sondern ein Leerraum, in dem Einzelereignisse nur punktuell aufblitzen, zeitgleich, versetzt, in größeren Abständen. Wer will, kann die Interpretationskraft des menschlichen Bewusstseins spielen lassen, das bekanntermaßen in die Welt mehr hinein- als herausliest. Dann wird man vielleicht Takte erkennen, nach denen die Blitze tänzerisch einander folgen, oder sternbildhafte Konstellationen, wo Ereignisse simultan die Nacht erhellen; doch dafür, dass diese Phänomene der Ordnung nicht in der Einbildung, sondern tatsächlich existieren, gibt es keine Garantie. So erweist sich die so genannte »Kunst« als äußerst schwache Hypothese. Diese Hypothese als solche anschaulich zu machen, wäre durchaus eine Herausforderung an die Kunst selbst – nicht zuletzt eine technische: 8 Stroboskopscheinwerfer à 3.000 Watt sind da schon das Mindeste. Auch die Titel wären mit Bedacht zu wählen: > BLITZE vielleicht,
> Leerstellen, > BLINDING DARKNESS oder – mit noch lauterem Nachdruck – > WHITE NOISE. Mag sein, dass die Kunst tatsächlich nichts anderes ist als letzteres.

2

Kunst nicht als Knetkugel, nicht als System, sondern lediglich als Ereignisraum, in dem neben einander aufblitzt, was vielleicht nicht einmal zueinander gehört: Jeder Versuch, auf die Frage nach dem Sein und Wesen der Kunst eine Antwort zu finden, wird durch dieses Vorstellungsbild schon im Ansatz abgewürgt. Nur Einzelgeschehnisse sind zu summieren, der Blick auf das Ganze bleibt blockiert. Das einzige, was noch helfen könnte, wäre, eines der Geschehnisse – zwischen Aufblitzen und Verlöschen – künstlich zu arretieren, unter Laborbedingungen zu konservieren und mikroskopisch sein feinstes Inneres heranzuzoomen. Denn mit hinreichender Hartnäckigkeit ließe sich behaupten: Wenn schon Kunst im Großen und Allgemeinen nicht zu fassen ist, so liegt ihr Mysterium vielleicht in der Singularität des Kunstereignisses selbst versteckt.

Das klingt aber einfacher als es ist: Zunächst sollte man Kunstereignisse nicht mit Kunstwerken verwechseln. Es hilft wenig, Kunstwerke dem Mikroskop oder dem Massenspektrometer anheim zu geben. Solche Untersuchungen sagen zwar viel aus über die materielle Beschaffenheit, doch rein gar nichts über die Kunstqualität. Selbst wenn ein Gemälde Caspar David Friedrichs zu Schrot zermahlen, in Zentrifugen durchrüttelt und mikroskopisch bis zum letzten Elementarteilchen zergliedert würde, fände sich noch immer kein Kunstmolekül. Als Kunstwerk existiert ein solches Bild nur in der Kategorie des Ereignisses, wobei der Singular täuscht. Ganze Häufungen von Ereignissen sind hier im Spiel: ein Werk wird erdacht, wird entworfen, wird gemacht, wird korrigiert und noch einmal korrigiert, dann kommentiert, vielleicht verkauft, ausgestellt, reproduziert, studiert, analysiert – die Grenzen dessen, was aufgezählt werden kann, setzt allein der Deutsche Duden. Jedes Kunstwerk selbst ist ein Kompositum unzählbarer, nicht weniger zufällig aufblitzender Kommunikationsaktivitäten, deren Summe wiederum gegen Unendlich geht.

Auch diese Frustration des Nahblicks in einfachen Bildern anschaulich zu machen, hätte seinen Reiz. Denkbar wäre es etwa, > mit purem Licht zu schreiben, mit einer Taschenlampe oder Wunderkerze – Worte, halbe oder ganze Sätze. Selbst der mit allen erdenklichen Finessen getunte Hochgeschwindigkeitskinematograph wäre nicht in der Lage, das Ganze der Fließbewegung 1:1 abzubilden. Es bliebe immer nur eine lückenhafte Aufzählung künstlich zerhackter Ereignisse, die über all die unzählbaren Zwischenzonen eisern schweigt. Und jedes Ereignis, in einer fotografischen Momentaufnahme eingefroren, ließe sich auch wieder künstlich zersieben, bis zum letzten Pixel und mit noch feinerer Rasterung über dieses Pixel hinaus – solange, bis die fraktale Schussfahrt ins End- und Bodenlose mündet. Nirgendwo gäbe es Halt. In jedem Licht- oder Schattenpunkt wartete nur eine unendliche Vielfalt weiterer nebulöser, blaustichig brodelnder Welten darauf, in die Sichtbarkeit gezoomt zu werden.

So läuft die Neugier auf die Kunst so oder so ins Leere, in welche Richtung mit Worten auch gegrübelt wird. Steuert man das Problem von außen an, in der festen Überzeugung, dass erst in der Umwelt der Kommunikation ein Objekt zum Kunstwerk wird, dann fährt sich die Nachforschung regelrecht fest in der Erkenntnis, dass eine Kommunikation über Kunst als sinnvoll zusammenhängendes Ganzes schlechthin nicht besteht; nachweisbar sind allein ein Reden über Kunst hier, ein Schreiben über Kunst dort, und die Verbindungsfäden sind viel zu zart, als dass hieraus eine Theorie zu stricken wäre. Umgekehrt gilt das gleiche: Geht man das Problem gleichsam von innen an, indem man aus dem Objekt selbst heraus argumentiert, seiner Struktur und seiner Identität, verzettelt sich das Denken in einem uferlosen Innenleben und wird daran irre, dass mit jeder vermeintlich feinsten Auflösung nur der grobkörnige Vorraum zu einer Sphäre noch unendlich feinerer gedanklicher Pixel betreten wird. Wie auch immer man es anstellt, die Kunst bleibt im blinden Fleck der Kognition.

3

Kunst als Menschheitsrätsel – das war nicht immer so. Frühere Zeiten hatten es leichter. Von der Antike bis in das späte 19. Jahrhundert war das Seil kunstphilosophischer Akrobatik sowohl auf Seiten des Begrifflichen, wie auch auf Seiten des Materiellen fest vertäut. Was den Begriff angeht, so wurde freilich heftig und strittig um seine Modulierung gerungen. Das änderte aber nichts an der Gewissheit, dass ein solcher Begriff vorhanden war und eine Entsprechung in der Wirklichkeit besaß. Irgendwo da draußen, so die durchgehende Überzeugung, gab es die Kunst als metaphysische Gegebenheit. Und demzufolge sah es die Kunsttheorie als ihre Hausforderung, eben diese Instanz so mit dem Geist in Worte zu fassen, wie es zum Beispiel die Malerei in ihren Bildern tat. Die Überlegung, die Kunst sei womöglich nur als Fiktion vorhanden, wurde erst gar nicht angestellt. Nicht anders verhielt es sich mit dem soliden Vertrauen auf ihre materielle Konsistenz. Kunst: das war Malerei, Skulptur und Architektur. Freilich gab es an den Rändern fließende Übergänge. Auch eine Zeichnung – vorausgesetzt, sie war mit hinlänglicher Sorgfalt ausgeführt – hatte in Ausnahmen Anspruch auf das Kunstprädikat, und selbst Objekte der Natur erfuhren mitunter das Privileg, gleichrangig präsentiert zu werden. Im Großen und Ganzen waren die Regeln zur Anwendung des Kunstbegriffs auf die Welt der materiellen Wirklichkeiten jedoch ebenso überschaubar wie die Möglichkeiten seiner Reflexion. Anders gesagt: Es herrschte noch keine Ratlosigkeit in Sachen »Kunst«.

Wann die Ratlosigkeit einsetzte, ist schwer zu sagen. Allerdings findet sich in der Geschichte eine visuelle Markierung, die so grell ist, dass spätestens hier das Ende der alten und der Beginn der neuen Kunst gesetzt werden muss. Die Rede ist von den Quadraten des Kasimir Malewitsch, von denen das rote – der natürlichen Kraft dieser Farbe entsprechend – zu den schrillsten gehört. Diese denkwürdige Mirabilie der jüngeren Kunstgeschichte sabotierte den traditionellen Kunstbegriff gleich doppelt. Da war zum einen das Rot als eine – an und für sich genommen – abstrichlos stupide Fläche, die sich qualitativ letztlich in nichts von einer bemalten Hauswand oder Droschkentür unterschied. Die Leinwand, bis dahin Träger des Besonderen, ja das Bild überhaupt, offenbarte sich mit einem Mal als reichlich banaler Gegenstand. Das Kunstwerk als Objekt, so hatte es bis dahin niemand wahrgenommen, und damit war mit einem Mal auch die Tür zur unlösbaren Frage aufgestoßen, wo überhaupt die sinnlich wahrnehmbare Grenze zwischen Gegenständen der Kunst und der Nicht-Kunst zu ziehen ist. Und zu dieser Verwischung der materiellen Kriterien kam die ideelle Verwirrung hinzu. Denn unscharf wurden auch alle Unterscheidungen zwischen dem, was über ein solches Werk zu sagen war, und dem, was sich von selbst verbot. Ein rotes Quadrat konnte alles aber auch nichts bedeuten, zumal ohne Gebrauchsanweisung – eine viereckig gepresste Riesentomate, ein Verkehrsschild im Urzustand oder eine »Meditationsfläche, deren Sog sich der Betrachter nicht entziehen kann« (so würde es ein Kunstschriftsteller formulieren).

Das Objekt selbst schweigt sich aus, die Kommunikation läuft ins Leere – das Rote Quadrat des Kasimir Malewitsch ist damit nicht nur der historische Beginn, sondern auch die vorweggenommene optische Pointe aller Probleme und Aporien der modernen Kunsttheorie. Noch mehr: es ist bis heute der subversivste, da einfachste und verständlichste Kommentar im so genannten »Kunstdiskurs«. Ein solcher Kommentar ist eigentlich auch nicht geschaffen für Museumsluft und Katalogpapier, er ist vielmehr gemacht für die großen philosophischen Wandelhallen des 20. und 21. Jahrhunderts, wo Menschen täglich zu Tausenden sinnierend stehen, in sich selbst versunken und doch für Unverhofftes offen – Bahnsteige, U-Bahnstationen usw. Zu wagen wäre aber auch einmal eine > Beflaggung mit roten Quadraten, am besten vor einer Akademie der Schönen Künste …

Katalogtext
> Gunda Förster
Kunsthalle Mannheim | Hatje Cantz, 2004

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